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Allein durch die demografische Entwicklung werden bis 2030 in Deutschland knapp 4 Millionen Fachkräfte fehlen. Johannes Pelzer, Recruiting-Trainer mit mehr als 20 Jahren Erfahrung im Personalbereich, stellt die gewagte These auf: „Fachkräftemangel ist nicht nur ein Generationenproblem. Sondern liegt auch am fehlenden Umdenken und den alten Strukturen in den Unternehmen selbst.“

Im Interview haben wir darüber gesprochen, wie der Recruiting-Trainer zu dieser Aussage kommt und was Unternehmen an ihrem Mindset ändern müssen, um ihre Chancen auf qualifizierte Bewerber zu erhöhen.

Johannes Pelzer: Recruiting-Trainer

1. Hallo Johannes, wie erlebst du den Fachkraftmangel in deinem Arbeitsalltag?

Johannes Pelzer:

Vor einem Jahrzehnt war die Einstellung neuer Mitarbeiter noch ein Problem der Personalstruktur. Niemand hatte Zeit, die zahlreichen Interessenten auf Herz und Nieren zu prüfen.

Seit Anfang meiner Selbstständigkeit begleitet mich der Fachkräftemangel in der täglichen Arbeit mit meinen Kunden. Doch ich stelle auch immer stärker fest, dass der Fachkräftemangel nicht nur eine Frage der demografischen Entwicklung ist. Vielmehr liegt die Ursache auch bei den Unternehmen selbst. Es häufen sich die Einsätze, in denen ich einen Fachkraftmangel erlebe, weil schlichtweg keine neuen Bewerber vorhanden sind, die auf die freien Stellen nachrücken. Einige ausgebildete Kräfte wären zwar durchaus da, aber keiner will die Position unter den gegebenen Bedingungen besetzen.

„Es liegt nicht nur an fehlenden Kandidaten!“

2. Das ist eine gewagte Behauptung. Wie begründest du das?

Johannes Pelzer:

Zum einen liegt der Grund in der Personalentwicklung. Einige Mitarbeiter gehen in Rente. Es fehlt an allen Ecken an Nachfolgern. Niemand hat die Zeit investiert, frühzeitig Nachwuchs anzuwerben, obwohl klar war, dass langjährige Mitarbeiter ihren Ruhestand erreichen.

Zugleich wollen top qualifizierte junge Menschen sich weiterentwickeln und wechseln öfter den Arbeitsplatz, die ihnen offenstehen, um alle Chancen zu nutzen. Sie suchen nach der bestbezahlten Stelle mit den optimalen Karrierechancen.

Dadurch entsteht eine klaffende Lücke, die bei vielen Unternehmen schwer zu füllen ist. Allerdings nicht zwingend, weil zu wenig Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Ich kenne genug Branchen, die eigentlich aus dem Vollen schöpfen könnten. Vielmehr haben zahlreiche Unternehmen schlichtweg zu steife, obsolete Strukturen.

Auf den ersten Blick scheint das Prinzip „Never change a running system“ bestimmt vielsprechend. Aber passt das für die heutige junge Generation, die mehr fordert als nur einen sicheren Job? Da können die Firmen nicht mehr mit den veralteten Strukturen punkten, die vor 20 Jahren Mitarbeiter wie magnetisch anzogen.

3. Also stehen sich die Unternehmen selbst im Weg?

Johannes Pelzer:

Ja und nein. Ich würde eher sagen, dass sich Bewerber und Unternehmen zunehmend voneinander entfernen.

Je starrer die Strukturen und Vorgaben, desto unattraktiver wirkt der Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer von heute wollen eine Auswahl: flexible Arbeitszeitmodelle, Home-Office und eine gute Work-Life-Balance.

Für mich während der Pandemiezeit erstaunlich: Homeoffice wurde flächendeckend umgesetzt. Es ging plötzlich doch irgendwie.

Firmen waren in der Lage weiterzuarbeiten und für Angestellte wurde die Work-Life-Balance besser, ohne dabei an Verdienst einzubüßen. Plötzlich entfielen Arbeitswege und alltägliche Verpflichtungen wurden leichter in den eigenen Workflow integriert. Unter dem Strich für beide Seiten eine Win-Win-Situation.

Heute beobachte ich oft Rückschritte. Einige Firmen schaffen das Home-Office wieder ab. Warum? Es hat doch in den meisten Fällen wunderbar funktioniert. Das Problem: Mitarbeiter, die vom Home-Office profitierten, erleben den Schritt zurück nun als eine Verschlechterung. Ehrlich gesagt wundert es mich nicht, wenn viele da das Handtuch schmeißen und nach einer attraktiveren Stelle suchen.

„Unternehmen müssen sich verändern!“

4. Das bedeutet, du siehst die Pflicht bei den Unternehmen, sich zu ändern?

Johannes Pelzer:

Definitiv. Unternehmen müssen flexibler und damit attraktiver für Bewerber werden, um die Herausforderung ihres Personalmangels zu lösen.

Die Veränderung kann schrittweise erfolgen. Zunächst das Umstellen der Arbeitszeitmodelle. Gleitzeit, Home-Office oder eine organisierte Kinderbetreuung machen einen Arbeitgeber schon attraktiver. Dann das Gehalt: Viele meiner Kunden kalkulieren mit veralteten Stundenlöhnen, die nicht mehr dem heutigen Standard entsprechen.

5. Und wie schließt sich der Kreis von den Arbeitsbedingungen zum Recruiting und zur Lösung gegen den Fachkräftemangel? Fasst du das noch einmal zusammen, Johannes?

Johannes Pelzer:

Wenn Unternehmen dem Zeitgeist angepasst sind und offen für neue Lösungen, läuft das Recruiting um einiges leichter, sogar bei bestehendem Fachkräftemangel.

Was spricht beispielsweise dagegen, einen Freelancer zu beschäftigen? Es gibt viele hochqualifizierte Menschen, die selbstständig arbeiten und nur die benötigte Zeit abrechnen. Das Unternehmen trägt dann zudem keine Sozialleistungen.

Aus meiner Erfahrung heraus haben Quereinsteiger oder Berufsanfänger die höhere Motivation sich weiterzuentwickeln. Warum geben Unternehmen ihnen so selten eine Chance? Dasselbe gilt für interne Weiterbildungen. Die Fachkräfte von morgen im eigenen Unternehmen ausbilden, aufbauen und formen, ist Aufstiegsmöglichkeit und Vorbeugung für Personalmangel. Ein Weg sich unabhängiger von den Schwankungen auf dem Arbeitnehmermarkt zu machen.

Ein weiteres Szenario: Firmen fallen aus allen Wolken, weil am Jahresende wie urplötzlich drei Mitarbeiter fehlen werden. Zwei gehen in Rente und einer wechselt den Job, weil er woanders besser bezahlt wird. Wer offene Stellen rechtzeitig neu besetzen möchte, muss eine Abteilung haben, die den Recruiting-Prozess vorausschauend koordiniert, strukturiert Annoncen schaltet und Bewerbergespräche führt. Und zwar frühzeitig! Optimalerweise gibt es für wenige Wochen eine Doppelbesetzung, in der die alte Fachkraft die Neue einlernt und den Aufgabenbereich nahtlos übergibt.

Es gibt relativ leicht umsetzbare Wege, die viele Unternehmen noch nicht sehen. Das untermauert meine These: Unternehmen verursachen ihren Fachkräftemangel zu einem großen Teil selbst und kommen deshalb an ihre Grenzen. Dabei kann ein Umdenken so viele Probleme verhindern. Denn die Bewerber reißen sich meiner Erfahrung nach um die Stellen bei attraktiven Arbeitgebern. Ein gutes Angebot schafft eine gute Nachfrage.

Unternehmer.de: Das war wirklich erkenntnisreich. Wir danken dir für deine Ausführungen und wünschen dir weiterhin alles Gute.

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