Erneuter Rückschlag für den Wirtschaftsstandort Nürnberg/Fürth: Der Verlust der Quelle-Arbeitsplätze reiht sich in eine Kette herber Niederlagen ein. In den vergangenen Jahren musste bereits das Aus von Grundig und die Schließung der AEG-Werke verkraftet werden. Nun stehen erneut Tausende Familien vor den Trümmern ihrer Existenz. Wohin driftet die Region?
Von Unternehmer.de-Reporterin Linda Csapo
„Quelle war ein Stück unserer Identität“, sagt Fürths Oberbürgermeister Thomas Jung (SPD) zerknirscht. Das Versandhaus, 1927 von Gustav Schickedanz gegründet, ist kein beliebiges Unternehmen gewesen, es hat die Städte Nürnberg und Fürth über Jahrzehnte hinweg mitgeprägt. Nicht selten arbeiteten ganze Familien – beide Elternteile und erwachsene Kinder – für Quelle. 1.800 Fürther waren bei Quelle tätig, das sind bei gerade einmal 115.000 Einwohnern über eineinhalb Prozent.
Auch wer jetzt selbst nicht betroffen ist, kennt mindestens eine Person aus Familie oder Freundeskreis, die bereits ab Anfang November keinen Arbeitsplatz mehr hat. Alleine Stadtoberhaupt Jung und seiner Frau fallen spontan sieben Bekannte ein. So ist es auch kaum verwunderlich, dass Jung im Vorfeld der endgültigen Quelle-Schließung eindringlich vor einem „zweiten Grundig“ gewarnt hatte.
„Kein zweites Grundig!“
Tatsächlich ist es nun aber noch wesentlich schlimmer gekommen als damals 2003: Als der Elektronikgigant Grundig seine Toren schließen musste, wurden 1.300 Mitarbeiter entlassen. Drei Jahre später standen nach der Schließung der AEG-Werke in Nürnberg erneut knapp 1.800 Menschen auf der Straße.
Diese Zahlen werden nun durch Quelle noch einmal relativiert, denn es geht diesmal um ein Vielfaches: 3.700 Menschen haben bereits ihre Arbeitsplätze verloren, es folgen weitere 4.000 alleine in Nürnberg und Fürth. Wie viele bei Partnerunternehmen – von Reinigungsbetrieben über Sicherheitsdienste bis hin zu Zulieferern – zusätzlich betroffen sein werden, ist noch nicht genau absehbar. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di schätzt ihre Zahl allein in Bayern auf mindestens 700.
„Mehr Depression als Aufruhr“
Wirtschaft sei zu einem Großteil Psychologie, wird Fürths berühmtester Sohn, Wirtschaftswunderminister Ludwig Erhard, oft zitiert. Doch diese Psychologie kehrt sich nun in das genaue Gegenteil dessen um, wie sie von Erhard einst verstanden werden wollte: Verbitterung macht sich breit. „Es ist hier mehr Depression als Aufruhr,“ stellt Oberbürgermeister Jung fest, und auch sein Parteigenosse Ulrich Maly, Oberbürgermeister der noch schwerer getroffenen Schwesterstadt Nürnberg, sieht seine Region unter Schock stehen.
Auf Malys Initiative stellte das Klinikum Nürnberg – wie sonst nach Naturkatastrophen und Amokläufen üblich – eine psychologische Notfallambulanz auf die Beine. Ein Kriseninterventionstrupp versucht direkt vor Ort auf dem Quelle-Gelände, mit psychologischen Sofortmaßnahmen die traumatisierten Betroffenen zu beruhigen.
Doch wie soll es nach dieser ersten Schockstarre weitergehen? Droht die Region Mittelfranken tatsächlich zum Armenhaus Bayerns zu werden? „Wir haben Grundig überstanden, Triumph Adler und manch anderen externen Schock, der die Region getroffen hat,“ gibt sich Maly zuversichtlich. „Wir werden am Ende auch Quelle überstanden haben, aber es wird ein schwieriger Weg.“
Strukturwandel und Stabilisierung
Und tatsächlich gibt es bei allen Hiobsbotschaften auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Fakt ist: Die Region hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt, den überproportional hohen Industrieanteil der 90er Jahre überwunden und ihre Wirtschaft stärker auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet.
Firmen wie die GfK und Datev operieren hier höchst erfolgreich. So gelang es auch, trotz der bereits damals einsetzenden Erosion von Grundig – im Laufe der Zeit wurden schleichend insgesamt 10.000 Arbeitsplätze abgebaut –die Arbeitslosenquote in Nürnberg/Fürth deutlich zu senken: Von 13 bis 14 Prozent Mitte der 90er Jahre auf heute acht bis neun – das ist bundesweiter Durchschnitt.
Auch zahlreiche weltbekannte Marken, wie die Sportgiganten Adidas und Puma sowie die Schreibwarenhersteller Schwan-Stabilo und Staedtler haben ihren Hauptsitz in der Region, ebenso wie eine Vielzahl kleiner und mittelständischer Unternehmen. Viele befinden sich noch im Familienbesitz und können sich auch auf dem Weltmarkt durchaus behaupten.
Nur stellt der Untergang eines Kolosses wie Quelle diese Erfolgsgeschichten natürlich in den Schatten. „Wir haben die Strukturen stabiler gemacht und sind krisenfester“, so Maly, der auch gleichzeitig der Vorsitzende der Metropolregion Nürnberg ist. „Aber auch damit verkraften wir keine 4 000 zusätzlichen Arbeitslosen.“
Aus der Vergangenheit lernen
Auch wenn es mit Quelle – im Gegensatz etwa zu Grundig und der AEG – diesmal kein marodes Industrie-, sondern ein großes Handelsunternehmen getroffen hat, müssen erneut Bemühungen um den Strukturwandel angesetzt werden.
Richtige politische Entscheidungen aus der Vergangenheit können hierbei den Weg weisen: Als Ende der 90er Jahre in Nürnberg tausende Arbeitsplätze im Maschinenbau wegfielen, wurde die Millionenhilfe der bayerischen Staatsregierung nicht etwa dazu verwendet, um veraltete Strukturen künstlich am Leben zu erhalten. Stattdessen wurde in neue, zukunftsträchtige Technologien investiert, sowie in Bildung, Forschung und in die berufliche Umschulung der Menschen.
Kaum ist das erste Entsetzen über das Quelle-Aus überwunden, wird auch jetzt schon in ähnlichen Bahnen gedacht. Bereits seit Sommer arbeitet die bayerische Staatskanzlei an einem Strukturprogramm, das vor allem Investitionen in Wissenschaft und Hochtechnologie vorsieht: Insbesondere Unternehmen aus dem Energiebereich und der Nanotechnologie sollen gefördert werden.
„Akut hilft das den Beschäftigten zwar nicht,“ räumte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer ein. „Aber hochqualifizierte Arbeitsplätze ziehen in aller Regel auch einfache Arbeitsplätze nach sich.“
So führte schließlich auch der Zusammenbruch Grundigs zu einer erfolgreichen Neuorientierung: Auf dem ehemaligen Werksgelände in Fürth ist heute ein modernes Gewerbegebiet mit zwei Dutzend Unternehmen (überwiegend aus dem Dienstleistungssektor) entstanden, die rund 2.500 Menschen beschäftigen. Insofern ist der Region Nürnberg/Fürth nur zu wünschen, dass es „ein zweites Grundig“ nicht nur im Schlechten, sondern auch im Guten geben werde.
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(Bild: © Anna Luise – Fotolia.com)
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