Wie können wir Veränderungsprozesse in Unternehmen professionell planen und gestalten? Das fragten sich Berater und Führungskräfte im Rahmen ihrer Weiterbildung zum systemischen Berater bei der WSFB Beratergruppe Wiesbaden.
Dabei zeigte sich: Vieles was wünschenswert wäre, lässt sich in der Praxis nicht realisieren. Unter anderem, weil die Berater meist erst gerufen werden, wenn die strategischen Basisentscheidungen gefallen sind.
Die Stimmung ist angespannt. Seit einer Stunde diskutiert die Arbeitsgruppe darüber, wie das Industrieunternehmen Bilba* beim Einführen seines neuen Vertriebskonzepts vorgehen sollte. „Du kannst doch Mitarbeitern, die bisher nur Kunden verwaltet haben, nicht den Auftrag erteilen, das Konzept zu entwickeln. Die wissen doch gar nicht, was ‚aktiv verkaufen’ heißt“, poltert Svenja Vogt, Bereichsleiterin bei einer Versicherung. „Aber wenn du ihnen das Konzept fix und fertig vor die Nase setzt, dann erntest du nur Widerstand“, kontert Pia Reim, Managementberaterin aus Köln. Zunehmend verhaken sich die beiden Frauen ineinander, während die beiden männlichen Gruppenmitglieder schweigen.
Dabei begann alles ganz harmonisch. Gemeinsam arbeiteten die Gruppenmitglieder heraus, welche Ziele das Unternehmen Bilba mit dem Projekt erreichen möchte. Dann ermittelten sie die möglichen „Störfaktoren“. Anschließend formulierten sie ihre Ziele als Berater. Doch kaum ging es an das Entwerfen der Prozessarchitektur, war die Harmonie verflogen. Und nun läuft der Gruppe die Zeit davon. In zehn Minuten soll sie ihre Arbeitsergebnisse im Plenum präsentieren.
Svenja Vogt reißt der Geduldsfaden. Mit energischen Schritten eilt sie zur Pinnwand und skizziert dort ratzfatz die Projektarchitektur. „Erst machen wir einen Workshop mit Vertriebsverantwortlichen. Dann …“. Die anderen Gruppenmitglieder schauen zu. Und Hans-Werner Bormann, Geschäftsführer von WSFB, der diesen Baustein der Beraterweiterbildung leitet und das Geschehen beobachtet? Er lächelt.
Strukturwandel im Unternehmen: Patentrezepte gibt es nicht
Im Plenum. Svenja Vogt präsentiert den Vorschlag „ihrer Gruppe“. Er zielt darauf ab, dass eine Projektgruppe das neue Vertriebskonzept von Bilba erarbeitet. Dieses wird dann mit dem Führungskreis abgestimmt. Anschließend werden die Führungskräfte geschult und erst danach die Mitarbeiter ins Boot geholt.
Die zweite Arbeitsgruppe präferiert ein anderes Vorgehen. Sie möchte zwar auch zunächst die Kerninhalte des neuen Vertriebskonzepts mit dem Führungskreis abstimmen, doch danach soll unmittelbar eine Kickoff-Veranstaltung mit allen Vertriebsmitarbeitern stattfinden. Dort soll zunächst der Vorstand das Ziel des Unternehmens skizzieren. Außerdem sollen einige Schlüsselkunden darlegen, wo aus ihrer Warte bei Bilba Entwicklungsbedarf besteht.
So instruiert sollen anschließend die Vertriebsmitarbeiter selbst in Arbeitsgruppen Vorschläge für das neue Vertriebskonzept entwerfen. Die Entwürfe werden dann von einer Projektgruppe komprimiert und redigiert, bevor unter der Überschrift „Vom beratenden Techniker zum verkaufenden Beziehungsmanager“ ein mehrstufiges Qualifizierungsprogramm für alle Vertriebsmitarbeiter beginnt.
„Und welches Vorgehen ist nun richtig?“, möchte Pia Reim von Hans-Werner Bormann wissen. Er zuckt die Schultern: „Beide oder vielleicht auch keines. Denn für das Gestalten von Veränderungsprozessen gibt es kein Standardverfahren, sondern nur Standardprinzipien.“ „Aber beim Vorschlag von Paula werden die Mitarbeiter doch erst beteiligt, wenn das Konzept steht“, moniert Pia Reim. „Na und?“, erwidert Bormann trocken. „Das Beteiligen der Mitarbeiter ist doch kein Selbstzweck.“
Mitarbeiter-Beteiligung ist kein Selbstzweck
Kaum sind Bormanns Worte verklungen, ergreift Johann Scholten, ebenfalls WSFB-Geschäftsführer, das Wort. Er leitet mit Bormann die Weiterbildung. Scholten möchte ein Missverständnis ausräumen, das er bei den Teilnehmern spürt: „Systemisch arbeiten heißt nicht, dass ihr alle Betroffenen beteiligen müsst.“ Dies würde häufig sogar das Erreichen der Ziele gefährden. Zum Beispiel, wenn die aktive Beteiligung die Mitarbeiter überfordert oder unnötige Widerstände provoziert. „Darauf solltet ihr gerade als systemische Berater beim Schmieden von Prozessarchitekturen achten. Sonst ist die Gefahr groß, dass die Architektur nicht anschlussfähig ist“, warnt Scholten.
Einige Sekunden herrscht Stille im Raum. Dann fragt Siegfried Britze, IT-Leiter bei einem Logistikunternehmen die WSFB-Geschäftsführer: „Und wie seid ihr das Projekt angegangen?“ WSFB entwarf im Dialog mit dem Vorstand das neue Vertriebskonzept von Bilba. Und dieses wurde den Führungskräften im Vertrieb sozusagen fix und fertig präsentiert. Pia Reim ist baff. „Dürft’ ihr das als systemische Berater überhaupt?“, fragt sie. „Warum nicht?“, fragt Bormann zurück. „Wenn die Systemanalyse zeigt: Das System wäre hiermit überfordert.“ Deutlich wird: Die WSFB-Geschäftsführer sind keine Anhänger der „reinen Lehre“, der zufolge systemische Berater sich auf die Prozessberatung beschränken müssen. Bei ihrer Beratungsarbeit in Unternehmen verfolgen sie den pragmatischen Kurs: Wenn ein fachlicher Input nötig ist, dann wird er geliefert.
Wichtiger als der Theoriestreit, wie viel fachlichen Input systemische Berater geben dürfen, ist für Bormann die Frage: Ist das Ziel der zweiten Arbeitsgruppe realistisch, innerhalb eines Jahres alle Bilba-Vertriebsmitarbeiter zu „verkaufenden Beziehungsmanagern“ zu entwickeln? Aus seiner Warte nicht! „Nach einem Jahr kann das Unternehmen froh sein, wenn es erste Verhaltensänderungen spürt.“ Zum Beispiel in der Form, dass die Vertriebsmitarbeiter regelmäßig eigeninitiativ Kunden anrufen.
„Sagen sie das ihren Kunden?“ möchte Bruno Huber, selbstständiger Vertriebstrainer aus Darmstadt wissen. Bormann schüttelt nachdenklich den Kopf. „Das ist eine Gratwanderung“, sagt er. Schließlich haben die Unternehmen oft wenig Erfahrung damit, wie langwierig kulturelle Veränderungsprozesse sind. „Die glauben oft: Heute starten wir ein Projekt und morgen ist alles gut.“ Entsprechend wichtig sei es, sich als Berater zu überlegen, welche Entwicklungsziele realistisch sind – und sich einzugestehen, dass die eigenen Ziele zuweilen andere als die der Klienten sind.
Strukturwandel im Unternehmen: Realistische Ziele formulieren
Einige Teilnehmer schauen irritiert. Also ergreift Johann Scholten das Wort. „Wie ist die Ausgangssituation, wenn wir als Berater gerufen werden? Meist hat die Geschäftsleitung die Basisentscheidung schon getroffen – zum Beispiel: ‚Wir strukturieren um‘. Auch das Entwicklungsziel wie zum Beispiel ‚Unsere Vertriebsmitarbeiter sollen verkaufende Beziehungsmanager werden’ ist bereits formuliert. Also können wir mit den Umsetzungsverantwortlichen in der Organisation nur noch schauen: Wie können wir uns dem vorgegebenen Ziel soweit wie möglich annähern?“
Der einfachste Weg wäre vielfach, alle Mitarbeiter zu entlassen und neue einzustellen. Das geht aber nicht. Also muss mit den vorhandenen Mitarbeitern versucht werden, das Ziel soweit wie möglich zu erreichen. Und wenn die Verkäufer anschließend zwar keine verkaufenden Beziehungsmanager sind, aber die Kunden ab und zu von sich aus anrufen? „Dann ist doch auch schon viel erreicht“, sagt Scholten.
Bei Pia Reim macht sich Ernüchterung breit. Sie träumt wie viele Organisationsberater davon, dass die Unternehmensführer sie bereits kontaktieren, bevor sie sich zum Beispiel für eine Fusion entscheiden, so dass der Changeprozess „lehrbuchmäßig“ gestaltet werden kann. Die Realität ist eine andere. Also müssen die Berater sich darauf einstellen.
Sich auf die Kernelemente konzentrieren
Nach der Mittagspause bearbeiten die Weiterbildungsteilnehmer in Arbeitsgruppen ein weiteres anonymisiertes Fallbeispiel aus der Beratungspraxis von WSFB. Nun gilt es, die Architektur für die Einführung eines neuen Unternehmensleitbilds bei einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ zu entwerfen. Die Ausgangssituation ist folgende: Das neue Leitbild ist bereits formuliert. Und wie stets stehen in ihm viele schöne Dinge – zum Beispiel, dass die Mitarbeiter künftig „eigenständig und -verantwortlich“ arbeiten sollen. Und die Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitern? Sie soll eine „partnerschaftlich-kooperative“ sein.
Wie kann ein solches Leitbild in einer Organisation eingeführt werden, in der alle Mitarbeiter sozusagen Beamte sind? In einer Organisation zudem mit einem mächtigen Personalrat und über der das Damoklesschwert schwebt: 15 Prozent der Personalkosten müssen eingespart werden? Dies ist kein Auftrag, von dem Berater träumen. Das wird den Arbeitsgruppen schnell klar. Einig sind sie sich darüber: Der Personalrat spielt beim Einführen des Leitbilds eine Schlüsselrolle. Folglich zielen die entworfenen Architekturen alle darauf ab, den Personalrat so früh und umfassend wie möglich zu integrieren.
Einig sind sich die Gruppen auch: Das Leitbild ist ein Traumbild. Mit der realen Organisation hat es wenig zu tun. Deshalb ist die Gefahr groß, dass es nach der Einführung auf Nimmerwiedersehen in der Schublade verschwindet. Also fokussiert sich das Bestreben der Gruppen zunächst darauf, realistische Ziele für die Leitbildeinführung zu formulieren. Beide gelangen zum Ergebnis: Wir sollten uns ein, zwei Kernelemente herauspicken und bei der Leitbildeinführung und dem damit verbundenen Qualifizierungsprozess den Fokus darauf legen. Alles andere lassen wir zunächst links liegen.
Strukturwandel im Unternehmen: Auch mal mit kleinen Erfolgen zufrieden sein
Ähnlich ging WSFB vor. Auch der Unternehmensberatung war schnell klar: Das Leitbild ist nicht maßgeschneidert; doch daran können wir nichts ändern. Also beschränkte sich die Arbeit von WSFB nach der offiziellen Einführung weitgehend darauf, mit den Abteilungen herauszuarbeiten, was einzelne Aussagen für die Alltagsarbeit bedeuten.
Heraus kamen laut Scholten oft ganz banale Dinge. So wurde zum Beispiel im Kundendienst vereinbart, dass künftig, wenn ein junger, noch relativ unerfahrener Techniker eine Pumpe nicht reparieren kann, dessen Führungskraft nicht einfach zu einem erfahrener Techniker sagt: „Fahr’ du hin und mach’ das.“ Statt dessen soll der erfahrene Techniker mit dem unerfahrenen gemeinsam die Pumpe reparieren, so dass der junge etwas lernt und zunehmend eigenständig arbeiten kann. „Von außen betrachtet wirkt dies wie eine Kleinigkeit“, erklärt Scholten. „Für die Techniker war dies aber eine große kulturelle Veränderung.“
In der anschließenden Tagesbesprechung sagt Siegfried Britze denn auch, eine wichtige Erkenntnis sei für ihn gewesen, wie wichtig es sei, realistische Ziele für die eigene Arbeit zu formulieren. Und Pia Reim? Für sie war es „befreiend“, dass sie als systemische Beraterin nicht stets alle Betroffenen beteiligen muss und auch mal einen fachlichen Input liefern darf. „Das eröffnet mir für meine Arbeit neue Optionen.“
*Die Namen der Weiterbildungsteilnehmer sowie die Namen der Unternehmen, die als Fallbeispiele dienten, wurden geändert.
(Bild: © V. Yakobchuk – Fotolia.com)
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