Der Trend hin zu einer Gesellschaft ohne Bargeld mit weitreichender Nutzung von Kartenzahlungen hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren – auch schon vor der Pandemie – zunehmend verstärkt. Während 2010 pro Person und Jahr durchschnittlich 33,4 Kartenzahlungen getätigt wurden, stieg diese Zahl 2019, also bereits vor der Pandemie, auf 75,8 an. Das ist eine Zunahme um 127 Prozent!
Manche beobachten die schwindende Bedeutung von Bargeld mit Sorge. Die Pandemie jedenfalls hat den Trend zum bargeldlosen Bezahlen noch verstärkt. So überrascht es heute kaum noch, wenn auch das Restaurant um die Ecke oder sogar die kleine Dorfbäckerei Kartenzahlungen akzeptieren. Die Deutsche Bundesbank stellte fest, dass die Gesamtzahl der mit Karte durchgeführten Finanztransaktionen aufgrund der Pandemie von 21 Prozent im Jahr 2017 auf 30 Prozent im Jahr 2020 angestiegen ist. Im selben Zeitraum sank der Anteil der Barzahlungen von 74 Prozent auf 60 Prozent.
Allerdings sind viele Länder in dieser Entwicklung bereits wesentlich weiter. Insbesondere in den skandinavischen Ländern sind Bargeldzahlungen schon länger zur Ausnahme geworden. In Schweden wurden im Jahr 2020 bereits 85 Prozent aller Transaktionen bargeldlos abgewickelt. Damit liegt Schweden weltweit in Sachen Kartenzahlung vorne. Verglichen damit scheint eine weitgehend bargeldlose Gesellschaft in Deutschland noch in weiter Ferne zu liegen. Es lohnt sich jedoch, einen Blick auf die nächsten Schritte und die verbundenen Herausforderungen zu werfen.
Die Vorteile einer in weiten Teilen bargeldlosen Gesellschaft liegen auf der Hand. Abgesehen von pandemiebedingten Vorteilen in Bezug auf Hygiene, wird es durch die Reduktion von Bargeldtransaktionen sehr viel schwieriger, Steuern zu hinterziehen oder Produkte auf dem Schwarzmarkt zu handeln. Auch hat die Nutzung von Mobile- und Online-Banking in den letzten Jahren zugenommen. Die Konsumenten haben gelernt, wie schnell, einfach und bequem diese Service sind. Dies und Kostengründe führen dazu, dass Banken vermehrt Filialen schließen. Auch wenn die Versorgung mit Bargeld in Deutschland im Moment gesichert ist, wirft das doch Fragen für die Zukunft auf.
Es sind insgesamt noch einige Hürden zu überwinden, bevor die Vision eines weitgehend bargeldlosen Zahlungsverkehrs Wirklichkeit werden kann. Es müssen wichtige Grundlagen geschaffen werden und die rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen definiert werden.
Wir leben in einem Land, in dem nicht die gesamte Bevölkerung über Zugang zu Online-Banking verfügt. Besonders in ländlichen Gebieten sind viele auf Bargeld als wichtigstes Zahlungsmittel angewiesen. Schlechtes Handynetz und langsames Internet erschweren z.B. das Überprüfen des Kontostands über das Handy, die Durchführung von Zahlungen oder gar das Eröffnen von Konten online. Ohne flächendeckend zuverlässigen Internetzugang ist ein bargeldloses Funktionieren der Wirtschaft nicht denkbar. Aus diesen Gründen und um teilweise hohe Gebühren zu vermeiden, akzeptieren viele Geschäfte und Restaurants – vor allem in ländlichen Gebieten – immer noch keine Kartenzahlungen.
Außerdem gibt es viele Bevölkerungsgruppen, die stark auf Bargeld angewiesen sind. Denken wir zum Beispiel an Obdachlose, die ohne festen Wohnsitz oft nicht einmal ein Bankkonto eröffnen, geschweige denn digitale Spenden von Passanten annehmen können. Wir müssen deshalb einen Status erreichen, in dem 100 Prozent der Menschen uneingeschränkten Zugang zu allen Finanzdienstleistungen haben, bevor zumindest die flächendeckende Abschaffung von Bargeld in Betracht gezogen werden kann.
Obwohl durch die Pandemie bedingt, nun deutlich mehr Menschen ihre Finanzgeschäfte online abwickeln, gibt es immer noch Millionen von Menschen, die sich mit digitalem Zahlungsverkehr schwertun. Für „Digital Natives“ hätte die Abschaffung von Bargeld nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf das tägliche Leben. Für andere Bevölkerungsgruppen dagegen wäre das Erlernen eines völlig neuen Umgangs mit Finanzen jedoch eine Hürde oder sogar ein Risiko.
Open Banking ist ein gutes Beispiel der letzten Zeit, wie die Grundlagen für eine Gesellschaft ohne Bargeld geschaffen werden können. Die EU-Verordnung PSD2 verpflichtet Banken, wichtige Funktionen ihres Online-Bankings über API-Schnittstellen für Drittanbieter zu öffnen. Dies ebnet den Weg für innovative Lösungen auf dem Finanzmarkt. Das kann auch zu einfacheren bargeldlosen Zahlungsmöglichkeiten jenseits von Kartenzahlungen führen. Menschen für neue Funktionen und Möglichkeiten zu begeistern, ist allerdings eine Herausforderung und erfordert Neugierde und Kenntnisse im Finanzbereich vonseiten der KundInnen.
Bei Open Banking gab es von Anfang an Bedenken hinsichtlich Datenschutzes und Cybersicherheit. Sie stellen nach wie vor eine große Herausforderung für das Projekt dar. Da Bankkonten verschiedener AnbieterInnen in einer App gebündelt werden können, stellt sich die Frage:
„Wenn eines meiner Konten gehackt wird, bedeutet das, dass alle gefährdet sind?“
In diesem Kontext ist wichtig: Im Gegensatz zu Open Banking betrifft eine Gesellschaft ohne Bargeld alle Menschen und nicht nur diejenigen, die sich bewusst zur Teilnahme entscheiden. Durch die Schaffung einer bargeldlosen Gesellschaft würden wir Millionen in digitalen Dingen wenig versierte Bürgerinnen und Bürger zur Nutzung von digitalen Produkten zwingen. Das ist auch deshalb relevant, da das schwächste Glied in punkto Sicherheit in jedem Online-System der Nutzer ist.
Digitale Kompetenz und ein gewisses Maß an Finanzwissen sind daher von entscheidender Bedeutung für eine Gesellschaft ohne Bargeld. Ebenso wichtig ist es, die gesamte Bevölkerung mit ins Boot zu holen – nicht nur die Digital Natives, die BewohnerInnen von Großstädten oder diejenigen, die ein Dach über dem Kopf haben. Jede und jeder braucht ein Bankkonto, eine gute Internetverbindung und die nötigen Kenntnisse und Tools, um seine Finanzen online zu schützen. Wir können nicht einfach die Verfügbarkeit von Bargeld reduzieren, sondern wir müssen zugleich das gesamte Finanzökosystem von Grund auf verändern.
Ich habe es im Supermarkt erlebt, dass im vorweihnachtlichen Trubel aus technischen Gründen Kartenzahlungen nicht mehr möglich waren. Allerdings half Bargeld in dem allgemeinen Chaos im Kassenbereich dann auch nicht mehr weiter.