Soeben hat ein munterer Radiosprecher in den Verkehrsnachrichten erneut ein „Kantholz“ auf der Fahrbahn irgendeiner A soundso gemeldet. Man solle vorsichtig fahren. Dieser Ratschlag leuchtet ein und bietet sich eher an als jetzt an der betreffenden Stelle auf 180 zu beschleunigen.
Dennoch gehöre ich offenbar zur Kleinst-Minderheit in diesem Land, die noch nie ein Kantholz gesehen haben – vor allem nicht auf der Autobahn. Ich weiß noch nicht einmal, was ein Kantholz ist und würde es im Zweifel gar nicht erkennen, wenn es da auf der Überholspur rumliegt. Ich vermute, der volkswirtschaftliche Schaden durch verlorene Kanthölzer ist größer als jede Bankenpleite. Ich bin ein mobiler Mensch und habe in den vielen Staus, in denen ich stehe, ausreichend Gelegenheit, solche tiefsinnigen Betrachtungen anzustellen.
Segnung der Lokomotive & roter Teppich – Verspätung des ICEs
Ähnlich geht es mir, wenn auf dem Bahnhof verkündet wird, der ICE verzögere sich leider um eine Stunde „wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland“. Bisher dachte ich immer, ein Zug hält einfach an der Grenze und fährt dann weiter. Aber da liege ich wohl falsch. Vermutlich muss man sich so eine Übergabezeremonie gänzlich anders vorstellen, mit Blasmusik, rotem Teppich, Ansprachen, symbolischer Übergabe der Fahrpläne, Segnung der Lokomotive und Schwarzbier zum Abschluss. Dass da schnell mal eine Stunde Verspätung rauskommt, ist logisch.
Ebenso, dass man das nur aufholen kann, wenn man danach ein paar Zwischenhalts weglässt – wie kürzlich ein ICE wieder einmal in Kassel- Wilhelmshöhe. Nun ist Kassel-Wilhelmshöhe ein kleiner Bahnhof, der leicht zu übersehen ist. Dennoch finde ich die Maßnahme richtig: Es ist wartenden Fahrgästen durchaus zuzumuten, bei reduziertem Tempo im Fahren aufzuspringen. Sie kennen diese Bilder von überfüllten Zügen in Indien, wo die Passagiere auf dem Dach sitzen und vorne an der Lok kleben? Na also, dort geht es doch auch.
Mobile Brezelverkäufer
Wahrscheinlich sollte zusätzlich verhindert werden, dass einer dieser mobilen Brezelverkäufer zusteigt, die seit Jahr und Tag nur in Kassel oder in Göttingen zu- und wieder aussteigen, warum auch immer. Ich erwähne den Brezelverkäufer, weil wir nun endlich beim Thema sind:
Der Mobilität. Also dem, was Mitarbeiter heute mitbringen sollten, wenn sie irgendwo Vorstand werden oder überhaupt erst mal eingestellt werden wollen: Mobilität. Wie der Brezelverkäufer, der so extrem mobil ist, dass er oft überhaupt nicht auftaucht, gerade wenn wir ihn mit seinen Brezeln dringend herbeisehnen.
Auch mein Heizungsmonteur ist so mobil, dass er an tausenden Orten auftaucht, nur nicht bei mir. Service-Wüste Deutschland? Alles nur der Mobilität geschuldet. Man muss das Positive im Grundsätzlichen sehen – oder so ähnlich, dann ist alles gar nicht so schlimm.
„Wie mobil sind Sie?“
Aber ernsthaft: In jedem Bewerbungsgespräch ist es die Schreckensfrage schlechthin: „Wie mobil sind sie?“ Eine Frage wie ein Peitschenhieb. Nach dieser Frage können Sie sich die Feierabendsause mit den Freunden, das abendliche Tennismatch oder den Spaziergang mit der kleinen Tochter für die nächsten Jahre gleich aus dem Kopf schlagen. Die kommenden Monate werden Sie entweder auf einer norwegischen Ölplattform, in einem Vorort von Moskau oder einem Wolkenkratzer in Singapur verbringen. Oder alles zusammen, wenn auch der Reihe nach.
Der Mobilitäts-Test bereitet nicht nur die Karriere, sondern auch die spätere Scheidung und den Selbstmord vor. Es ist eine Frage, die keinerlei Zögern im Gespräch erlaubt. Jedes nervöse Zucken der Mundwinkel kann sie als immobilen Faulenzer entlarven. Sie müssen bei dieser Schlüsselfrage einfach gegen Ihren inneren Schweinehund an und erklären, Mobilität sei Ihnen mit in die Wiege gelegt: Schon im beengten Laufstall hätten Sie rumkrakelt wie ein brünftiger Kater. Gleichzeitig trommeln Sie mit den Fäusten gegen die Wände des kleinen Besprechungszimmers. Das macht Eindruck. Ihr Drang zur Mobilität steht jetzt außer Frage.
16 Kunden täglich?
Die Antwort auf die Mobilitätsfrage könnte einfacher sein, wenn wir wüssten, was der Personalmensch im Bewerbungsgespräch eigentlich genau wissen will. Was meint er mit Mobilität? Arbeiten bis spät in die Nacht? Ständig im Flieger um die Welt? Sechs Smartphones gleichzeitig bedienen? Oder will er nur wissen, ob wir ein Auto habe und täglich 16 Kunden abklappern können? Mobilität ist ein kompliziertes Phänomen.
Wo sie verlangt wird, löst sie Stress und Burnouts aus und wichtige Lebenszusammenhänge auseinander. Doch allmählich kommt Bewegung in die Diskussion: Für die nachwachsende Generation Y ist der Begriff Mobilität schon gar nicht mehr positiv besetzt – jedenfalls nicht so, wie wir sie klassischerweise verstehen. Abends unter Freunden ist es zunehmend uncool, damit anzugeben, dass man gerade aus London käme und morgen mittag noch mal kurz nach Genf müsse. Das neue Motto lautet eher: Wer ständig reisen muss, kann sich nicht richtig organisieren.
Flieger nach Brasilien
Der Begriff Mobilität wandelt sich in halsbrecherischem Tempo. Bedeutete er bis vor kurzem noch, selber in den nächstbesten Flieger nach Brasilien zu springen, wenn der Kunde ruft, meint Mobilität heute etwas ganz anderes: Gemeint ist die Fähigkeit, von jedem beliebigen Ort der Welt aus, eben dem Ort, an dem wir uns gerade aufhalten, mobil tätig zu sein – etwa eine Videokonferenz mit dem Kunden über das Smartphone zu organisieren, Daten abzurufen, ein Video-Tutorial auf dem Firmen-Server herunterzuladen, etwa wenn ich ein technisches Problem vor Ort nicht lösen kann.
Daten sind mobiler als wir
Offenbar ist es so, dass die Daten inzwischen mobiler geworden sind als wir. Die Daten wandern mit uns an jeden Ort der Welt. Sie sind so schnell wie wir es nie sein können. Ob das ganze im Büro, im Home Office, auf dem Golfplatz oder in meinem Strandhaus in Ibiza passiert, ist vollkommen egal. Wie erstaunlich: Erst wer wieder stationär wird, kann richtig mobil sein.
Alles geht, zu jeder Zeit, von jedem Ort aus
An der Vernetzung der Kommunikationstechnologien, die uns diese neue Mobilität erlauben, arbeiten die Software-Riesen mit Hochdruck. Unter dem Stichwort „UCC – Unified Communication & Collaboration“ werden alle Funktionen auf einer einzigen Oberfläche zusammengeführt: Video, Chat, Kundendaten, Client Working Rooms, Adresslisten, Präsenz-Tools, Telefon, alles auf einem Bildschirm. Privat- und Berufsleben fließen endgültig zu einer Einheit zusammen, Zeit verliert ihren strukturierenden Charakter.
Alles geht, zu jeder Zeit, von jedem Ort aus. Unwirtschaftlich wird es nur, wenn alles gleichzeitig mobil ist. Die Mobilität der Daten und Kommunikations-Systeme sollten uns ja eigentlich dabei unterstützen, unsere eigene Mobilität zurückzufahren. Dafür sorgen, dass eben Familie und Tennismatch und Tochter NICHT zu kurz kommen. Trotzdem düsen wir unverändert wie die Weltmeister durch die Landschaft und die Züge werden immer voller und die Staus immer länger. Irgendetwas funktioniert da nicht optimal.
Nicht mehr reden, wenn wir sprechen wollen
Ah ja, der Kunde? Der braucht Sie? Persönlich? Vor Ort? Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. Schätzungen gehen dahin, dass in den nächsten 20 Jahren über 60 Prozent der persönlichen Kundenbegegnungen ins Video-Conferencing abwandern. In einigen Jahren wird die Simulation des Kundenkontaktes über Kommunikations-Plattformen so perfekt sein, dass Sie Realität und Schein nicht mehr unterscheiden können. Ein 3-D-Kino könnte nicht schöner sein. Die neue Generation der mobilen Technologie wird Möglichkeiten produzieren, von denen wir heute nur träumen können. Google Glass ist nur ein Beispiel. Socken mit Sensoren, die uns täglich über unsere Schrittanzahl informieren oder Mützen, die uns die Klingeltöne eingehender Anrufe direkt auf den Gehörknochen spielen, sind andere.
Es soll sogar ein Forschungsprojekt geben, die innere Stimme, also dieses „stumm vor sich hinsprechen“, das wir alle kennen, technisch abzugreifen und als Datenpaket zu versenden. Es könnte also sein, dass wir bald, wenn wir reden wollen, gar nicht mehr sprechen müssen. Sensationell. Und spätestens dann ist es vollkommen egal, ob Sie wirklich beim Kunden sitzen oder – gänzlich unmobil – in Ihrem Strandhaus in Ibiza.
(Bild: © jumpem – Fotolia.de)
Naja, selbst wenn ich mobil bin und das Unternehmen sogar technisch in der Lage ist mit mir zu kommunizieren…. Sind die Menschen IM UNternehmen denn schon so weit? Oft sehe ich, dass die Kultur und die Führung noch nicht so weit ist, um Mitarbeiter zu verkraften, die „remote“ arbeiten, Es braucht enorm viel (mehr) an Vertrauen und Verbundenheit, Kommunikationsfähigkeit und Verständnis um „fern der anderen“ und trotzdem effektiv miteinander arbeiten zu können.