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Der Denkfehler im Marketing: Warum der Kunde eben nicht an erster Stelle steht [Kolumne]Wenn Unternehmen mal nichts zu tun haben, kommt mit Sicherheit irgendjemand auf die Idee, Leitsätze zu formulieren. Meistens der oberste HR-Manager oder der Chef selber. Leitsätze sind wichtig. Sonst wüsste man morgens gar nicht, warum man so früh auf- und dann im Stau steht.

Leitsätze heißen auch „Visions“ und „Missions“ je nachdem, wieviel Englisch alle können. Dann wird ein Workshop einberufen mit vielen gelben und blauen und roten Zetteln und alle warten gespannt, was am Ende der Zettelwirtschaft rauskommt. Wenn alle ehrlich wären, stünde auf den Zetteln etwa „Wir wollen möglichst viel verdienen“, „Ohne Moos nix los“ oder etwas Ähnliches.

Aber das traut sich niemand. Meistens sortiert der Moderator die ganzen Kärtchen zum Schluss so zusammen, dass rauskommt: Der Kunde steht bei uns an erster Stelle. Oder ganz vorne. Oder im Mittelpunkt. Das ist erstaunlich: Da arbeiten tausende von Menschen unabhängig voneinander an ihren Kärtchen und immer kommt derselbe Satz raus. Irgendwas kann da nicht stimmen.

Vorne ist gefährlich

Vorne stehen ist in der Regel gefährlich, damit fängt es ja schon mal an: An der Bahnsteigkante kann man auf die Gleise kippen, in der Kirche merken alle, dass man das Lied nicht kann, bei Demonstrationen kriegt man als erster den Wasserwerfer ab und beim Sommerschlussverkauf bei Karstadt wird man von der Menge an der Glastür zerquetscht, bevor um 9 Uhr jemand aufschließt. Und wo es sinnvoll wäre, klappt es nicht – etwa an der Supermarktkasse.

Da bin ich immer nur achter oder neunter – obwohl ich im Laufe meines Rundgangs und als vorbildlicher Kunde jede Menge Happy-Hippo-Snacks, Weihnachtsschokolade und von jedem Sonderangebot drei Exemplare übereinander im Wagen auftürme, auch wenn ich das alles nicht brauche. Aber offenbar reicht das bei Edeka noch nicht für ganz vorne.

Auch der Mittelpunkt ist kritisch und man muss sich sehr genau überlegen, ob man da stehen will: Erstens ist ein Mittelpunkt immer so klein, dass höchstens ein Kunde draufpasst. Schon der zweite guckt in die Röhre. Der Mittelpunkt der Schweiz etwa, auf einer hochgelegenen Alm im Kanton Obwalden, ist durch ein Kreuz markiert, das gerade mal 8 Quadratzentimeter groß ist.

Im Mittelpunkt gucken einen alle auch ständig an. Vielleicht sind Scheinwerfer auf einen gerichtet, man muss noch was sagen oder einen Fragebogen ausfüllen. An so einem Ort wollen wir gar nicht stehen und stromern lieber unauffällig an der Wand lang, wenn eine da ist. Im Museum etwa hat das unbestreitbare Vorteile, weil man die Bilder besser sieht. Außerdem stehen in der Mitte meistens Bänke, auf denen man sitzen, aber nicht stehen kann.

Zehn Minuten „Für Elise“

Auch sonst steht der Kunde natürlich nicht ganz vorne, Leitsätze hin, Leitsätze her. Wenn das so wäre, hätte ich einen Sitzplatz im ICE ohne schmatzenden Nachbarn, einen Heizungsmonteur, der sofort kommt und nicht erst nächste Woche, einen schnellen Termin beim Augenarzt, eine Versicherung, die mich nicht hinterhältig übers Ohr haut oder ein Smartphone, dessen Bedienung ich auch verstehe. Eine Waschmaschine vielleicht, die 20 Jahre hält und nicht nach fünfen ihren Geist aufgibt. Batterien, die länger halten als von Kassel-Wilhelmshöhe bis Göttingen und Beschwerdeanrufe, bei denen ich sofort durchgestellt werde und nicht zehn Minuten „Für Elise“ in der Warteschleife hören muss.

Wenn man es genau betrachtet, steht der Kunde nicht nur nicht vorne, sondern ganz hinten: Er ist nämlich das letzte Glied der Produktionskette und derjenige, der letztlich den ganzen Schmonzes, der produziert wird, abnehmen muss. Sonst kann der ganze Laden vorne zumachen. Aber das kann man in den Leitsätzen natürlich so nicht schreiben: Dass der Kunde nichts anderes ist als ein Glied in der Produktionskette genauso wie die Maschine, die Verpackung, die Anlieferung.

Dass der Kunde am Ende dieser Kette noch ein Gehirn hat und nachdenkt, bevor er den ganzen Ramsch kauft, ist marketingtechnisch eher bedauerlich, aber nun mal nicht zu ändern. Der Kunde wird zwar getrackt, analysiert, verfolgt, kontaktiert, hofiert, in Leitsätze gepresst, genervt und zugemüllt mit Werbung, aber damit steht er noch nicht ganz vorne.

Ganz vorne steht erstmal die Rendite: Für die Bahn sind proppevolle Züge besser als leere, für den Arzt 120 Patienten am Tag besser als nur fünf, ein Küchenrührgerät, das nach 12 Monaten seinen Geist aufgibt, besser als eines, das ewig hält. Das wissen wir alle.

Galilei und die Kunden

Dass die ganzen mittelständischen Tüftler sich ständig was Neues einfallen lassen, das wir eventuell brauchen könnten, ist ja eine schöne Sache. Denn von alleine wären wir nie auf so tolle Dinge gekommen wie ein Smartphone, einen Abfahrtsski, der „Speed Blue 23 XX15“ heißt oder „leicht-luftige“ Margarine, in der dann ein Drittel weniger drin ist zum gleichen Preis. Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir folgendes Bild aus dem Mittelalter in den Kopf: Im Mittelalter, vor Galilei, hat man geglaubt, die Sonne drehe sich um die Erde.

Wenn wir mal annehmen, die Erde wären wir Kunden und die Sonne sind die Unternehmen, dann denken wir noch wie im finstersten Mittelalter. Erst Galilei hat ja bewiesen: Um uns dreht sich gar nichts. Als Erde nicht, als Kunde auch nicht. Im Gegenteil, wir sausen selber mit Höllengeschwindigkeit um die Sonne und merken nicht mal, wie wir als Kunde täglich einmal um uns selbst gedreht werden.

Auch wenn es auf den ersten Blick anders scheint. Galilei ist für so eine Erkenntnis fast geköpft worden, oder gehängt. Ich glaube, wenn ich meine Theorie auf einem deutschen Marketingtag vorstellen würde, droht mir das gleiche Schicksal. Es mag sich in den letzten Jahren in der Kundenbetreuung viel bewegt haben: Freundlichere Verkäufer, schnellere Antworten auf Beschwerden, ehrlichere Informationen, mehr Service.

Doch am Prinzip hat das alles nichts geändert: Ein Unternehmen betrachtet die Kundenbeziehung nach wie vor von innen nach außen – vom Produkt hin zum Absatz. Damit werden wir als Kunden auch weiterhin nicht ganz vorne, sondern ganz hinten stehenbleiben. Alle Seminare und Nutzenversprechen, alle Schulungen und alle klugen Vorträge haben daran nichts geändert. Letztlich, das ist jetzt ein schwieriger Gedanke zum Schluss, würde so etwas ja nur dann funktionieren, wenn der Kunde Produkt und Leistung auch selbst erstellt, wenn Produktions- und Konsumkette eins werden.

Da der Kunde dann jedoch identisch mit sich selbst wäre, könnte er – zumindest in den bunten Leitsätzen – weder irgendwo vorne noch in der Mitte, sondern nur noch „in sich“ stehen. Vielleicht ist das, marketingtechnisch gesehen, sowieso kein schlechter Platz, wenn man denn schon irgendwo stehen muss. Man weiß dann zumindest, wer man ist und was man will. Jedenfalls immer noch besser als ganz vorne oder in der Mitte. Das wäre mir, wie gesagt, viel zu gefährlich.

Dr. Klaus-Ulrich Moeller

Dr. Klaus-Ulrich Moeller ist Kommunikationsberater, Kolumnist, Speaker und Autor. Er war PR-Chef bei der Deutschen Lufthansa, der TUI und beim weltweiten Beratungskonzern PricewaterhouseCoopers. Viele Jahre hat er mit Unternehmern im Unternehmernetzwerk Vistage International gearbeitet. Als Journalist schreibt er satirische Kolumnen. Für die Aufdeckung der STERN-Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher erhielt er den renommierten Theodor-Wolff-Preis. Mehr Informationen unter: www.creative-comm.de.

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6 Comments

  • dampfgarer-test.com sagt:

    Hervorragender Beitrag und einen wirklich schönen Blog hast du hier! Ich werde sicherlich öfter mal vorbeischauen! :)

  • Burak Agri sagt:

    Ja/Nein …. und genau hier liegt der Hund begraben. Denn die meisten „Kunden“ wollen gesagt bekommen, was für sie das Richtige ist – leider. „In-Sich“ stehen setzt Wissen, Verstehen voraus und das Interesse für die Dinge, die Zusammenhänge. Genau deshalb ist es so wie es ist. Der Kunde steht am Anfang, in der Mitte und auch immer am Ende. Ein wenig wie in der Quantenphysik.

  • Stefan K aus G sagt:

    Teure Workshops und Seminare sind in gewisser Weise nur Gruppenverblödung, aber wichtig, um die Belegschaft in (m)einer Richtung zu halten. Der Kunde soll abnicken und kaufen, mehr nicht. Erfolgreiches Beschwerdemanagement greift dann, wenn der Unzufriedene nach fünfeinhalb vergeblichen Ansprechpartnern und Elise aufgibt. Ich kauf gerne beim Einzelhändler um die Ecke, da ist die Welt noch in Ordnung, oder?

  • Es ist doch nicht so, dass der mündige Kunde keine Wahl hat. Wenn Industrie und Handel lernen sollen, dass der Kunde individuelle Wünsche hat, wird auch der Kunde akzeptieren müssen, dass er seine individuellen Bedürfnisse nicht mit billiger Industrieware von der Stange erfüllt bekommt. Wenn er seine Schuhe wieder von Hand fertigen lässt – wie im Mittelalter- kann er Form, Farbe und Termin selbst bestimmen. Er wird sie allerdings länger tragen müssen, als nur eine Saison.

  • Jörg Podlinski sagt:

    Prinzip Hoffnung – Sie zerstören doch alles [Satire]
    Endlich hat man den Kunden soweit, dass er nun ausschließlich _meinem_ Unternehmen das Vertrauen schenkt und _erster_ an der Kasse sein darf.

    Da kommen Sie daher und werfen die Marketingrundsätze und Leitbilder _meines_ Unternehmens um. Dabei wurden ja die Leitbilder von _allen_ Mitarbeiter in nächtelanger Gruppenarbeit gemeinsam entwickelt, werden selbstverständlich inhaltlich von jedem getragen und haben sogar Auswirkungen auf das Privatleben jedes Einzelnen.

    Gerade eben haben die Mitarbeiter entschieden, dass sie sogar lieber ab sofort nur noch Kunde _meines_ Unternehmens sein wollen, um so in den Genuss des Leitbildes kommen zu können und nun so etwas! Sie sollten sich wirklich schämen…
    *zwinker*

  • Stefan Nette sagt:

    Da ist sicherlich etwas dran, und ich werde es als HR-Manager berücksichtigen, wenn wir unsere Leitsätze basteln .Ja ich bin so ein Depp, der das angestoßen hat :D und ihre Gedanken helfen mir wirklich weiter. Vielen Dank und die besten Grüße

    Stefan Nette

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