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Das Personalauswahlverfahren überdenken

Auch früher versuchten Unternehmen in Personalauswahlverfahren schon zu checken, inwieweit ein Bewerber sieht, was es zu tun gilt. Ein alter Trick, um dies zu testen, war: Bevor ein Bewerber den Raum betrat, legt ein Mitarbeiter ein Blatt Papier oder einen Füllfederhalter auf den Fußboden. Und dann warteten alle Anwesenden gespannt darauf: Sieht der Bewerber, nachdem er die Tür durchschritten hat, den Gegenstand? Und wenn ja, hebt er ihn, während er auf die Personaler zugeht, auf? Umfassender wurde in der Regel nicht getestet, wie „wach“ und eigeninitiativ ein Bewerber ist.

Das sollten Unternehmen aber künftig tun, wenn Eigenengagement und ein Blick fürs Ganze zu Schlüsselkompetenzen sehr guter Mitarbeiter werden. Am ehesten dürfte dies im Rahmen von Assessment Centern möglich sein, bei denen mehrere Kandidaten gemeinsam eine (Projekt-)Aufgabe lösen.

Eine weitere Möglichkeit, um das Vorhandensein dieser Kompetenzen zu checken, könnte sein: Das Unternehmen stellt dem Bewerber im Auswahlgespräch eine Aufgabe, deren Lösung, wenn gewisse externe Rahmenbedingungen nicht mitbeeinflusst werden, automatisch eine „Insellösung“ darstellt – mit den entsprechenden Folgeproblemen. Daraus, ob und wie eigeninitiativ der Kandidat die Rahmen-bedingungen thematisiert, die es beim Streben nach einer Top-Lösung zu berücksichtigen gilt, könnten Rückschlüsse gezogen werden: Wie geht der Kandidat eine Aufgabe an? Inwieweit denkt er bei deren Lösung über den Tellerrand hinaus? Und was würde er alleine oder im Team tun, damit die Lösung Spitze ist oder im Einklang mit den Bereichs- oder Unternehmenszielen steht?

Wenn die Fähigkeit, das große Ganze zu sehen, und die Bereitschaft, sich hierfür zu engagieren, Schlüsselkompetenzen sind, die für den Erfolg von Unternehmen immer wichtiger werden, dann sollte den Mitarbeitern künftig auch ein Feedback nicht nur bezüglich der Qualität ihrer Arbeitsergebnisse gegeben werden. Eine Rückmeldung sollte ihnen, zum Beispiel in Mitarbeitergesprächen, auch diesbezüglich gegeben werden: Wie wurden die Arbeitsergebnisse erreicht? Weitgehend eigenständig oder unter mehr oder minder straffer Führung? Bereits im ersten Anlauf oder erst nach mehreren Korrekturschleifen oder Interventionen – seitens der Führungskraft oder von Kunden? Das heißt, an die Mitarbeiter sollte auch regelmäßig ein klares Signal gesendet werden, dass ein selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln von ihnen erwartet wird; des Weiteren, dass dies ein zentrales Kriterium beim Bewerten ihrer Leistung ist. Doch nicht nur dies! Auch der Wert ihrer Arbeitskraft wird hieran gemessen, weshalb sich der Grad der Eigenverantwortlichkeit auch in der Entlohnung widerspiegelt.

Führung muss sich neu positionieren

Mitarbeiter bringen bezüglich ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, bei ihrer Arbeit das große Ganze im Blick zu haben und sich für dieses zu engagieren, unterschiedliche Startvoraussetzungen mit – aufgrund ihrer Sozialisation und Persönlichkeit. Auch ihre diesbezüglichen Entwicklungspotenziale variieren. Doch auch diese Kompetenz kann (weiter-)entwickelt werden. Der Schlüssel hierzu ist, den Mitarbeiter im Arbeitsalltag immer wieder aufzuzeigen, wie viele Kleinigkeiten beispielsweise zu beachten sind, damit Qualität entsteht und die Kunden begeistert sind. Und wie sich die unterschiedlichen Ziele, die ein Unternehmen oder Unternehmensbereich anstrebt, wechselseitig beeinflussen. Und wie sich der Markt des Unternehmens entwickelt, weshalb bestimmte Verhaltensänderungen notwendig sind.

Diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen, den Mitarbeitern immer wieder vor Augen zu führen, ist eine künftige Kernaufgabe von Führung. Diese Aufgaben können Führungskräfte zum Beispiel wahrnehmen, indem sie mit ihren Mitarbeitern reflektieren: Warum haben wir bei der schwierigen Aufgabe x eine Top-Lösung entwickelt? Oder: Warum war bei der Aufgabe y aus Kundensicht die Lösung unbefriedigend, weshalb er sich beschwerte? Des Weiteren: Warum stellen gewisse Lösungen, die vor wenigen Jahren noch Top-Lösungen waren, heute – aus Kunden- oder Unternehmenssicht – keine Toplösungen mehr dar, weshalb sich unser Verhalten verändern muss?

Nur wenn eine Führungskraft in einem permanenten Dialog mit ihren Mitarbeitern hierüber steht, kann sich bei ihnen die Kompetenz (weiter-)entwickeln, zu erkennen, was zum Produzieren von Qualität notwendig ist und welcher Lern- und Entwicklungsbedarf bei ihnen noch besteht, um ein sehr guter Mitarbeiter zu werden (oder zu bleiben). Diese Entwicklung zu fördern, liegt im Eigeninteresse der Führungskräfte. Denn je ausgeprägter die Kompetenz ihrer Mitarbeiter zur Selbstführung und -entwicklung ist, umso stärker werden sie entlastet – da sie weniger straff führen und seltener unterstützend sowie kontrollierend und korrigierend eingreifen müssen. Hinzu kommt: Die Leistung einer Führungskraft wird stets an der Leistung ihres Teams beziehungsweise Bereichs gemessen. Auch deshalb sollten Führungskräfte ein Eigeninteresse daran haben, dass die Kompetenz und somit die Performance ihrer Mitarbeiter kontinuierlich steigt.

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Dr. Georg Kraus

Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal, für die fast 50 Trainer, Berater und Coachs arbeiten. Der diplomierte Wirtschaftsingenieur promovierte an der TH Karlsruhe zum Thema Projektmanagement. Er ist Autor des Change Management Handbuch sowie zahlreicher Projektmanagement-Bücher. Seit 1994 ist er zudem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence und der technischen Universität Clausthal.

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